Der frühere Olympiateilnehmer und Manager Michael Ilgner über Druck als Privileg und Kompliment, warum der Spitzensport eine exzellente Schule für das Berufsleben sein kann und was erfolgreiche Athleten und Athletinnen in Unternehmen lernen. Das Interview hat Anno Hecker geführt. Der Origianlartikel waurde am 7.05. in der FAZ veröffentlicht.: "Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Herzlichen Dank
F.A.Z., 07.05.2025, Nr. 105, Sport, S. 28
"Talent wird offenbar überbewertet"
Der frühere Olympiateilnehmer und Manager Michael Ilgner über Druck als Privileg und Kompliment, warum der Spitzensport eine exzellente Schule für das Berufsleben sein kann und was erfolgreiche Athleten und Athletinnen in Unternehmen lernen.
Herr Ilgner, helfen Erfahrungen im Spitzensport einem ehemaligen Athleten, Erfolg als Mitarbeiter eines Unternehmens zu haben?
Erfolgsrezepte aus dem Hochleistungssport können wunderbare Wegweiser sein für eine gute Unternehmens- und Führungskultur. Aber auch nur, wenn man die Grenze des im Sport Erlebten für die Arbeit in einem Unternehmen erkennt.
Welche?
Es geht nicht so schnell voran wie beim Hundertmeterlauf. Der Alltag in Unternehmen ist wesentlich komplexer, vielschichtiger als das im Hochleistungssport der Fall ist. Man kann es mit einem Mehrkampf vergleichen samt ständig wechselnder Disziplinen. Rein nach Leistung wie im Spitzensport funktioniert es nicht.
Was kann ein Spitzensportler konkret einbringen in ein Unternehmen?
Wer gelernt hat, zu den Besten zu gehören, der hat auf dem Weg dahin eine besondere Mentalität entwickelt. Diese Haltung lässt sich in jede andere Form der Höchstleistung übertragen. Die Struktur einer Leistung ist immer die gleiche. Ich weiß aus Erfahrung: Leistungsbereitschaft, Leistungswille, die man im Hochleistungssport lernt, gepaart mit dem Interesse in einem Team, sich gegenseitig besser zu machen, sind eine exzellente Ausbildung für den Beruf.
Welche Fähigkeiten, die Sie als Athlet entwickelt haben, half Ihnen als Führungskraft?
Geholfen hat mir sicherlich die Erkenntnis und Erfahrung, wie lange man an einem langfristigen, fast unerreichbar scheinenden Ziel arbeiten kann und muss.
Ein Beispiel bitte.
Mit 13 Jahren nahm ich mir vor, mit dem Schwimmen aufzuhören und begann, Wasserball zu spielen, weil ich zu den Olympischen Spielen wollte. Das war das Nonplusultra für mich. Es gab viele Auf und Abs, aber ich habe nicht losgelassen. Diese Unnachgiebigkeit, die Überzeugung, etwas zu haben, was mich fesselt, bereit zu sein, weiterzugehen als andere, hat mir im Berufsleben geholfen. Wenn etwas schwierig wurde, wenn ich unsicher war, wenn ich eine Niederlage einstecken musste. Aus verschiedenen wissenschaftlichen Studien wissen wir, ob im Sport oder in der Musik, dass es mindestens 10.000 Stunden Übung braucht, um Weltklasse werden zu können. Wer nicht bereit ist, diesen langen Atem zu haben, wird es nicht nach ganz oben schaffen. Im Sport hatte ich dafür klare Ziele und Visionen, mit denen ich mich zu 100 Prozent identifiziert habe. Auf der anderen Seite habe ich erst im Nachgang vollständig verstanden, was ich im Sport früh teilweise nicht so gut gemacht habe und auch später im Berufsleben noch lernen musste.
Zum Beispiel?
Bei der EM im Wasserball 1995 hatte ich ein traumatisches Erlebnis. In einem entscheidenden Spiel traute ich mich nicht, eine Entscheidung zu treffen, und vertändelte den Ball. Es ging noch gut, aber wenn wir das Spiel verloren hätten, hätte es dramatische Auswirkungen gehabt auf die Qualifikation für die Sommerspiele 1996 in Atlanta. Ich habe noch jahrelang davon geträumt. Erst gut 20 Jahre später ist mir im Zusammenhang mit meinem Job und einem professionellen Coaching klar geworden: Ich hatte in dieser Situation Angst vor der Niederlage. Der Druck und meine gefühlte Verpflichtung dem Team gegenüber waren so groß, dass ich nicht die Leichtigkeit hatte, das Richtige zu tun. Wir sehen den Druck zu selten als Privileg an, das wir uns selbst erarbeitet haben. Wir weichen dem aus vor lauter Angst vor einer Niederlage.
Druck ist ein Privileg?
Ja, er ist das größte Kompliment, das man sich erarbeiten kann, ob im Hochleistungssport oder im Unternehmen. Wenn ich in einem sehr intensiven Führungsjob am Abend sagen kann, drei, vier wichtige, gute Entscheidungen getroffen zu haben, von denen ich vielleicht sogar am Morgen noch nicht gewusst habe, dass sie bis zum Abend gefällt werden müssen, dann war es ein guter Tag. Dazu braucht man ein fundiertes Wissen, aber eben auch Mut, Selbstvertrauen, Entschiedenheit und die Einstellung, der Druck sei ein Privileg. Im Sport würde man sagen: ,Gehe nicht ins Finale mit der Einstellung, Silber ist ja sicher. Gehe rein mit der Einstellung und Vorfreude: Ich will Gold'.
Bezogen auf das Berufsleben in einem Unternehmen heißt das was?
Beispielsweise bei einer Präsentation vor dem Vorstand nicht vor allem darauf abzuzielen, Kritik um jeden Preis zu vermeiden, sondern die Latte höher zu legen und den Anspruch zu haben, alle Kolleginnen und Kollegen mitzureißen für ein innovatives Konzept meines Teams. Der Spitzensport ist eine exzellente Schule dafür. Das ist übrigens ein erstes Zwischenergebnis einer empirischen Untersuchung, die ich gemeinsam mit der Deutschen Sporthochschule Köln initiiert habe. Spitzensportler betrachten Druck nicht als so negativ, behalten ihre positive Ausstrahlung, auch in Selbstgesprächen, bereiten sich mental intensiver vor. Auch viele Topführungskräfte in der Wirtschaft wissen, wie wichtig es ist, unter Druck entscheiden zu können. Aber zu viele passen den Ball weiter, in der Hoffnung, jemand anderer übernehme die Verantwortung.
Aus Angst vor dem Verlust der Position?
Ja. Es funktioniert jedoch nur innerhalb einer Unternehmenskultur, in der Niederlagen nicht als Scheitern, sondern als Schritt zum Besseren betrachtet werden. Die Niederlage ist die intensivste Form des Lernens. Im Sport passiert das zweimal am Tag im Training.
Niederlagen dürfen nicht als Makel betrachtet werden, sondern als Motivation, es besser zu machen.
Sie sagen, dass Erfolg das Produkt aus Talent, Training und Mindset, also Haltung, sei…
…ja, keiner dieser drei Faktoren ist ersetzbar, wenn man Weltklasse werden will.
Gilt das auch für das Berufsleben?
Unbedingt. Man muss erstens die Fähigkeit mitbringen, die im Sport als Talent bezeichnet wird: sehr schnell, sehr präzise lernen zu können. Auf Basis einer möglichst fundierten Ausbildung dann zweitens fortwährend und kontinuierlich zu investieren - und drittens die richtige Haltung zu haben, wie man das alles tut und im Wettkampf oder in entscheidenden beruflichen Situationen anwendet.
Sie sagen selbst, dass es in Unternehmen nicht immer nur nach Leistung geht.
Unternehmen sind oft darauf angewiesen, Messbarkeit zu simulieren, die ein Sportler im täglichen Training durch Zeiten, Weiten oder ständige Vergleiche automatisch erlebt. Man muss sich später mehr damit auseinandersetzen, dass nicht allein die eigene, direkt messbare Leistung zählt, sondern auch die Fähigkeit, wie man andere von der eigenen Überzeugung begeistert. Wie integriere ich mich in ein Team? Wie passe ich meine Fähigkeiten dem größeren Ganzen an? Und wie helfe ich dem Ganzen, sich weiterzuentwickeln? Da kann man als Einzelperson noch so stark sein, wenn die Synchronisation nicht gelingt, wird sich auch ein ehemals erfolgreicher Spitzensportler kaum zurechtfinden. Man muss lernen, eine neue Form von Abhängigkeit zu spüren und zu akzeptieren.
Was können junge Athleten und Athletinnen von Unternehmen lernen?
In Unternehmen könnte die Offenheit für andere Meinungen, Perspektiven und Ansätze größer sein als im Spitzensport.
Warum?
Weil Erfolg im Unternehmen weniger planbar ist. Das ist umso spannender. Junge Sportler könnten in einem Unternehmen lernen, wie man mit schwer kalkulierbaren Rahmenbedingungen zurechtkommt, dass man im Vergleich zum übersichtlichen Spitzensport weniger Laborbedingungen und ein gewisses Chaos zulassen, sich abertrotzdem oder gerade deshalb weiterentwickeln kann. Ich habe viele Interviews mit Spitzensportlern und Führungskräften von Unternehmen geführt, um weiter herauszuarbeiten, wie man zum jeweils besten Ergebnis gelangt. In den vielen Werdegängen stechen fünf zentrale Haltungen heraus, die hier wie dort die Basis für dauerhafte Spitzenleistungen bilden: Identität, Unnachgiebigkeit, Umgang mit Niederlagen, Druckresistenz und selbstreflektierte Vision.
Was steckt hinter Ihren Schlagworten?
Hinter Identifikation und Selbstführung die Vorstellung, dass der wichtigste Wettkampf im eigenen Kopf und vor dem Spiegel stattfindet. Man lässt sich zweifellos vom Wettbewerb inspirieren, pushen. Aber wer sich immer nur mit anderen misst, bleibt maximal die Nummer zwei. Man muss vor allem die eigene Stärke entwickeln. Der zweite Punkt ist die Ausdauer und kluge Unnachgiebigkeit. Ich denke an die Überzeugung, dass immer noch eine Runde mehr geht, das Dranbleiben über einen langen Zeitraum. Plan B kann die eleganteste Entschuldigung sein, Plan A nicht konsequent zu verfolgen. Aber es gewinnen nicht die, die nur am meisten trainieren, sondern die unnachgiebig Klugen. Diejenigen, die zum richtigen Zeitpunkt auch die Regeneration einbauen.
Und der dritte Aspekt ist…
… die Elastizität im Umgang mit Niederlagen. Niederlagen sind der Preis für Fortschritt. Wer nie verliert, hat weder genug noch wirklich Neues ausprobiert. In den ersten Untersuchungsergebnissen zeigt sich zum Beispiel, dass sich Sportlerinnen und Sportler offensichtlich weniger von Rückschlägen einschüchtern lassen. Der vierte Punkt ist von zentraler Bedeutung: Druck ist ein Privileg. Der fünfte Punkt hat etwas mit Vision und Selbstreflexion zu tun. Ein Sieg ist für einen Spitzensportler nie der Endpunkt, sondern nur das Sprungbrett zur nächsten Herausforderung, zur nächsten Leistung. Wer aber langfristig Spitzenleistung bringen will, der muss gezielt zwischen maximalem Einsatz und strategischer Erholung wechseln können - und sich seine Erfolge klar machen können.
Lässt sich das Mindset trainieren?
Das Mindset ist besser trainierbar als Talent. Man hat es weitgehend selbst in der Hand. Ich appelliere an eine ambitioniertere Haltung, wenn es um Entwicklung von Führungskultur geht. Erfolg, der Hunger danach, Ehrgeiz halte ich nicht für verwerflich, sondern für unverzichtbar, um Unternehmen und unsere Gesellschaft nach vorn zu bringen.
Ist das Maß des Talents nicht leistungsbestimmend?
In unserer Studie sagt das Gros der Spitzensportler, dass sie den Anteil von Talent am Erfolg nur mit 20 bis 30 Prozent einschätzen, dass Training und Mindset gewichtiger sind. Das bestätigt meine Sicht. Wir sind zu sehr auf den Talentbegriff fixiert. Talent wird offenbar überbewertet. Oder anders gesagt: Diejenigen, die wir als Talente bezeichnen, sind oft diejenigen, die die fünf genannten Haltungen am längsten beherzigten. Die Untersuchung läuft noch bis mindestens Ende des Jahres. Wir vergleichen Hochleistungssport und Unternehmensführung noch intensiver, um mehr Daten zu erheben und Unterschiede herauszufiltern.
Haben Sie noch andere Zwischenergebnisse?
Bislang gibt es eine Tendenz, dass Topmanager Talent eher als angeboren, als unverrückbar ansehen und vor allem auf harte Arbeit setzen. Sportler hingegen glauben stärker an die Qualität als nur die Quantität von Training und an eine fortwährende Entwicklungsfähigkeit von Talent. Das mag mit der Vorstellung zusammenhängen, dass sie unter dem Begriff Talent auch die Anpassungsfähigkeit sehen, die in Zeiten der sich aktuell schnell ändernden Ansprüche im unternehmerischen Wettbewerb - etwa durch den Einzug von KI - aus meiner Sicht noch erfolgskritischer sein wird.
Das Gespräch führte Anno Hecker.
Zur Person
Michael Ilgner gewann als Wasserball-Nationalspieler Bronze bei der EM 1995 und nahm an den Olympischen Spielen in Atlanta 1996 teil. Schon während seiner Karriere sammelte der promovierte Diplom-Wirtschaftsingenieur Berufserfahrung, wurde später Mitglied der Geschäftsleitung einer internationalen Strategieberatung. Zwischen 2006 und 2020 wirkte er zunächst als Geschäftsführer, dann als erster hauptamtlicher Vorstandsvorsitzender der Deutschen Sporthilfe. In dieser Zeit entwickelte sich die Stiftung unter anderem mit einem Leitwerte-Programm zu den gehörten Stimmen in der Sportpolitik. Anfang 2020 machte die Deutsche Bank Ilgner zum globalen Personalchef. Als Generalbevollmächtigter im Vorstand war er zusätzlich für das globale Immobilienmanagement verantwortlich. Nach im April 2023 erschienenen Berichten über einen Kauf festverzinslicher Anleihen hatte die Finanzaufsicht seine nicht rechtzeitig eingegangene Meldung als geringfügig bewertet und deshalb nicht weiter verfolgt. Zum Oktober 2023 entschied der heute 54-jährige Unterfranke, die Deutsche Bank zu verlassen. Seitdem arbeitet er als Berater, Unternehmer und Dozent. In einem Forschungsprojekt mit der Deutschen Sporthochschule Köln untersucht Ilgner "Erfolgsfaktoren individueller und kollektiver Spitzenleistungen in Sport, Wirtschaft und Gesellschaft".
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Autor/en: Hecker, Anno
Serie: Aufmacher Sport
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